Geld ist faktisch, nicht wirklich.
Herbert Marcuse
Ich muss aufpassen. Ich darf mich nicht den Verlockungen einer Sprache, die mit richtig und falsch argumentiert, hingeben. Wenn ich die andere Seite kennen lernen will, ist Zeit das beste Instrument, Kritik zu üben: „Lege zwei Zeiten nebeneinander und es entsteht automatisch Kritik. Keine Zeit will die andere stehen lassen, keine Zeit will den Raum mit einer anderen teilen.“ Ich habe das einmal geschrieben. Ich glaube immer noch, dass es stimmt. Das beste Mittel, eine Gegenwart zu kritisieren, ist die Vergangenheit, nicht irgendeine ferne unbeteiligte Vergangenheit, sondern eine, die man selber erlebt hat als Zeug*in einer Veränderung. Es kann eine gefühlte Veränderung sein, dass ein Wort sich jetzt anders anfühlt als früher, Unbehagen auslöst oder dass man das Unbehagen fühlt, das ein Wort jetzt auslöst, weil es so danebenliegt, während früher jede*r wusste, was damit gemeint war. Spüre ich die allgemeine Ablehnung, hört meine Solidarität mit dem Wort auf. Das ist wie Fremdschämen. Niemand darf wissen, dass ich eine frühere Beziehung zu dem Wort, das mein Ex-Wort geworden ist, verleugne. Mit der Dissidenz dieser Wörter will auch ich nichts zu tun haben und gehe im Einklang mit der Gesellschaft konform auf Abstand.
Obwohl ja der verschobene Sinn der Wörter nur die Spitze des Eisbergs darstellt und darunter ein ganzer Zeitkomplex liegt, den es zu bergen gilt. Kritik übt sich im Nachdenken über Bedeutungen. Sprache übt permanent Kritik an sich selbst. Im Erwecken der anderen Sinne wird der gegenwärtige Sinn erschüttert. Die möglichen anderen Sinne flottieren nicht frei und beliebig, sondern sind zeitlich verortet. Man merkt an den Unterschieden, wie sich die Zeiten verändert haben, sofern man es wissen will.
Es kann anders sein!
Allein, dass unterschiedliche Zeiten nebeneinander zu liegen kommen, stellt das, was ist, in Frage (selbstverständlich auch das, was war – aber die Vergangenheit wird ohnehin immer durch die Gegenwart revidiert), womit ich eigentlich schon beim Thema wäre.
Was ist. Wirklich. Faktisch. Das Faktische und das Postfaktische.
Letzter Begriff kursiert derzeit in verschiedenen Medien. Wie fast alle Begriffe hat er eine konkrete Herkunft und Richtung. In diesem Fall ist es das Ansprechen gegen die Verleugnung von Objektivität. Heute hätten Gefühle und der Bezug auf einen persönlichen Glauben mehr Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung als Fakten (schreibt der Spiegel). Im Englischen klingt diese Kritik noch schärfer. Hier heißt der Begriff dafür „Posttruth“. Nach der Wahrheit. Und ich wäre nicht ich, würde das nicht eine Spur nach Früher legen, Bedeutungen auferstehen lassen, Sagbares und damit auch Personen, die es sagen und damit auch Zeiten. Unwillkürlich geschieht mit dem Wort die Wiederauferstehung einer ganzen Szenerie.
Einem Pop-Up Buch, das aufgeschlagen wird, gleicht das,
bin ich doch zu sehr im Misstrauen geschult, um anzunehmen, es wäre wirklich so gewesen.
Spurenlesen kann ich aber noch und Fährten nachgehen vom Kalten, zum Warm-, Wärmeren ins Heiße: So kommt es, dass der Begriff Post-Wahrheit für mich eine Zeit wiederauferstehen lässt, die von Skepsis gegenüber aller Behauptung von Wahrheit geprägt war, die „Wahrheit“ in Anführungszeichen setzte und dagegen Vielheiten erstehen ließ, die zu Gleichgültigkeiten wurden, weil das Kritische die Tendenz hat, mit der Zeit verloren zu gehen und eher die Schwachstellen übrigbleiben und ausgeschlachtet werden.
Also übrig blieb: dass alles, was ist, beliebig ist und jede*r sich die Welt so sehen und darin handeln kann wie sie ihm gefällt, was in einer begrifflichen Engführung „postfaktisch“ genannt wird. Ich will damit nur sagen, dass Wörter unweigerlich eine Umgebung erstehen lassen, die als schweigende Mehrheit um sie herumsteht, und das Bild mit dem Eisberg ist vielleicht auch hier treffend, weil es ja die Mehrheit ist, die im Nichtausgedrückten – unter Wasser – verbleibt. Das Wort „postfaktisch“ legt also für mich diese Fährte in die Zeit der späten 1980er und frühen 1990er Jahre und hier legt sich meine Biografie (und damit auch meine soziale, geografische etc. Position) über die Zeit, wenn ich sage: wenig, das (mir) heute so virulent unter den Nägeln brennt, war damals erkennbar und offensichtlich. Aber das gilt eben nur für diese (m)eine begrenzte Position. Aus anderen Perspektiven dürfte es sehr wohl erkennbar gewesen sein. Es hängt damit zusammen, wie es möglich wird, etwas zu sagen und anderes ausschließen, das nicht einmal in den Horizont der Wahrnehmung tritt. Karl Marx hätte vielleicht dazu gesagt, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimmt und diesen Satz ausgedehnt auf die restliche westliche Welt, die scheinbar wirklich für einen Moment, der sich jetzt wie ein kurz angehaltener Atemzug anfühlt, davon ausging, dass alles zu Ende gedacht und zum Ende gekommen war. Fast wäre so etwas wie Langeweile aufgekommen damals. Dass die Soziale Frage, so gut unter den diversen Lebensstilen versteckt, wiederkehren könnte, hätte sich keiner denken können. Für den Zustand der Prekarität gab es am Ende der 1990er Jahre nicht einmal eine Bezeichnung, geschweige denn eine sozialrechtliche Reaktion (sieht man von der unzeitgemäßen und eher hilflosen Diskussion um die „atypische Beschäftigung“ ab, die schließlich „das Typische“ zu verdrängen begann). Erst als die verborgene Minderheit außerhalb des Normalarbeitsverhältnis zur Vielheit (Multitude) wurde, konnte nicht mehr darüber hinweggegangen werden. Die Gesellschaft entdeckte Räume, deren Vorhandensein sie schon längst vergessen hatte. Den Kellerraum der Armut beispielsweise. Spürbar war das Erstaunen, dass hier noch immer/schon wieder Menschen lebten. Ich erinnere mich an das Ächzen der Sozialwissenschaften sich dem Sozialen wieder zuzuwenden. Pierre Bourdieus „Das Elend der Welt“ erschienen 1997 auf Deutsch (La Misere du Monde erschien 1993 in Frankreich) war für mich das erste Buch, das es zum Thema machte. Aber es dauerte eine Zeit, um das Leben im Schatten des Neoliberalismus überhaupt zur Sprache zu bringen, eine Sprache dafür zu finden, für etwas, das gar nicht mehr sein sollte. Abhängigkeit, zum Beispiel oder das Ressentiment oder die furchtbaren Zufluchten wie Nationalismus oder Rassismus angesichts fundamentaler oder vorgestellter Ungewissheiten.
Gut, heute weiß es jede*r, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist. Von Jahr zu Jahr wird unabsehbarer, was noch alles eintreten wird. Vielleicht führt das auch zu einer Beliebigkeit, wenn eine Katastrophe der anderen die Türklinke reicht, kann sein. Kann sein, dass sich alles unterschiedslos einreiht: die Reaktorkatastrophe, der Terror, PEGIDA, die vielen tausenden Toten im Mittelmeer und die 200.000-jährige Endlagerung des radioaktiven Atommülls alles gleich weit weg oder alles gleich nah ist.
Wenn ich auf einer Parkbank sitzen und meine neben mir sitzende Bekannte auf dem Smartphone kontaktieren kann, oder wenn ich im Online-Standard lese, dass heute in Tirol zwei Flüchtlinge getötet wurden, die auf einem Güterzug nach Deutschland gelangen wollten. Sie wurden von den anfahrenden Lastwagen auf dem Autozug überrollt. Sie wären entweder bewusstlos oder eingefroren gewesen (denn sonst wären sie weggelaufen). „Eingefroren“, das Wort steht wirklich so dort und gleich darunter im Forum ein Beitrag mit der Forderung genau zu differenzieren, was denn ein Flüchtling sei, und darunter eine ausufernde Diskussion um den Begriff der „Rollenden Landstraße“. Alles gleich nah wie auch weit weg auf dem Schirm. In dieser Schwebe meint „postfaktisch“ wahrscheinlich, dass ich es mir aussuchen kann, welche Nachricht zum Fakt wird und die Realitätsschwelle überschreitet. Das hat auch mit der Form zu tun, in der diese Nachrichten auf mich einströmen, in der dem Geschehen die Wirklichkeit bereits genommen wurde. Ungreifbar wird alles und den Augen ist nicht zu trauen und das Wissen wird zum Hörensagen über etwas, das vermutlich auch anders sein könnte, mit Sicherheit anders ist, wenn ich den Verschwörungs-theoretiker*n Glauben schenken will. Irgendwann könnte im Raunen der Echo Räume auch die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Erde eine Scheibe ist und, wenn es genug Follower für diese Ansicht gibt, zur Wirklichkeit werden. So wische ich die Chimären vor meinen Augen vom Schirm. Man sagt. Man erzählt sich. Fama eilt als Facebook durch die digitalen Kontinente. Sie verschwindet nie wirklich, sobald sie großgeredet ist von der Menge. Tatsächlich ist sie eine Art Göttin. Eine Lawine wird losgetreten, keiner weiß, wer hinter dem Fake-Profil steht, das alles ins Rollen brachte. Nur die Toten sind echt. Über ihren Status – Täter oder Opfer – kann noch diskutiert werden. Ohne Papiere waren sie. Ohne Körper sind sie jetzt. Wie auch die Crowd ohne Körper ist. Ein Körperteil – ein Finger, ein Auge – reicht schon oder möglicherweise noch eine Hand, um das Smartphone weit weg von sich zu halten, aber das kann auch ein Selfie Stick. Die neueste Herausforderung oder auch Prüfung (Challenge) besteht darin, mit einem Finger die eigenen Geschlechtsmerkmale abzudecken, während ma*n das Selfie macht. Das geht mit der richtigen Entfernung und ein wenig Übung, dass die ganze Scham unter drei Fingergliedern zum Verschwinden gebracht wird, die Brüste unter der halben Hand. Nicht Geo- sondern Körper-Blocking (mit anschließendem Körper-Blogging) ist das, wenn der Körper im Bild in eine Entfernung gebracht wird, die seine wirklichen Ausmaße zugunsten einer Idealperspektive auslöscht. Und es geschieht alles aus einer Hand: der Blick wie auch die Zensur – die der Draufsicht von außen schon vorauseilt – und eigentlich das Thema dieser ganzen Inszenierung ist. Es geht hier nicht um Vergewisserung des eigenen Körpers (Körper-Ichs) im Bild, sondern um die Einpassung in ein Schema, dessen Maßstab dem Körper vorausgeht. Das Idealbild bestimmt die Wirklichkeit, die sich daraufhin ummodelt. Es sei, wie es zu sollen hat. Es geht darum, die Welt in ihr Bild zu verwandeln und wenn die Welt noch nicht wie Photoshop aussieht, muss nachgeholfen werden. Für den Körper gilt, dass er umso besser ist, je weniger er vorhanden ist. Leerräume definieren ihn wie zum Beispiel die Lücke zwischen den geschlossenen Oberschenkeln, mit einem A4 Blatt kann die Taille vollständig abgedeckt werden. Abwesenheit bestimmt, wie der Körper – trotz aller Egomanie – im Selfie ins Bild gerückt wird. Es gibt zwar die andere Seite der Abwesenheit, aber auch die ist keine Präsenz, sondern eher eine Parodie. Ein Teil steht für das Ganze. Übertriebene Körperteile: Haare. Busen. Muskeln. Penisse. Lippen. Nasen. Beine. Haut, die noch nie so untief war. Nichts Unscharfes mehr. Alles überausdrücklich. Wie Rufzeichen gehen sie durch die Welt. Wie Marker mit Leuchtstift. Aber weil ich in diesem Text allen aufkommenden Spuren nachgehen möchte, muss ich auch hier sagen, woran mich das erinnert. Nicht der Inhalt, sondern die Deutlichkeit und das Ausdrückliche findet sich auch im Pornofilm, der rein im Bestehenden verbleibt, im über sichtbaren Realismus der Körperteile. Die Großaufnahme der für den Sexualakt erforderlichen Einzelteile trägt zur Zerstückelung bei. Und der demonstrative Zeitablauf, sagt nichts Anderes als dass es so gemacht wird: eine ganz simple Gebrauchsanleitung. Hier ist alles Fakt. So sehr Fakt, dass für das nichtgegenständliche, schwebende Imaginäre etwa des Erotischen kein Raum gelassen wird. Das Faktische als das Bestehende, als der Boden der Tat-Sachen, grenzt das Wirkliche aus. Denn das Wirkliche ist mit dem Faktischen nicht identisch.
Ohne mich gibt es die Wirklichkeit nicht.
Und nein, ich meine das nicht in der Überheblichkeit, die die ganze Welt in Geiselhaft nimmt, dass alles durch mich hergestellt wie auch wieder vernichtet werden kann. Diese Haltung gehört für mich irgendwie zur Spielewelt, zu der ja auch das Schreiben gehört: Dass die Welt nichts ohne mich ist. Wenn mir etwas nicht passt, kann ich gleich die ganze Welt mitzerstören. Zum Beispiel dieses Blatt Papier zerreißen. Nein, geht ja nicht, aber auf STRG A kann ich gehen und dann auf DELETE. So leicht ist das geworden. Ich brauche das Papier nicht einmal in die Hand nehmen, hören und spüren, wie es zerreißt. Ratsch! Das geht mittlerweile mit allem. Ohne Exit. Ohne Neustart. Doch immer unter der Annahme, alles wäre revidierbar. Heute sehe ich diese Haltung oft.
Ich meine, dass die Frage nach der Wirklichkeit die Frage nach dem Ich in dieser Wirklichkeit ist, das sich in diese Wirklichkeit immer erst hineinbringen muss. Es gibt Fotos, auf denen eine Hand zu sehen ist oder ein Fuß. Eine Hand, die schreibt und ein Kamerablick, der sieht wie die eigene Hand schreibt, sich ins Bild bringt. Was heißt das? Ich sehe darin die Versuche einer Selbstvergewisserung, Spuren zu hinterlassen, nicht nichts sein. Jetzt ist da schon wieder ein Körper. Kein Körper, der einem Bild entspricht. Ein Körper, dessen Ausdehnung ungewiss ist.
Ist es noch Spiel? Kann es noch umgedreht, rückgängig gemacht werden?
Ich muss aufpassen.
Und überhaupt, was ist das für eine Realität, in der die Transzendenz nicht mehr vorkommt, in der das das Bestehende immer fester wird?
Ich muss aufpassen.
Dass das Wirkliche nicht das Vernünftige wird.
Ich muss aufpassen.
Wenn das Triviale und Offensichtliche überausdrücklich überdefiniert werden.
Muss ich aufpassen.
Wenn Information, Erkenntnis und Wissen hingegen vorbehalten werden und im Vagen bleiben.
Muss ich aufpassen.
Auf das, was nebeneinander zu liegen kommt.
Muss ich aufpassen.
Auf das, was sich widerspricht.
Ich muss aufpassen.
Auf das, was sich nicht einfügt.
Ich muss aufpassen.
Auf das Dagegen.
Ich muss aufpassen.
Auf das, was sich nicht von selbst versteht.
Ich muss aufpassen.
Auf das, was unumkehrbar ist.
Ich muss aufpassen.
Auf das, was verletzlich, endlich, verortet,
körperlich, einzigartig, zerstörbar ist.
Ich muss aufpassen.
Weil das Faktische nicht das Wirkliche ist.
Muss ich aufpassen.
Weil ich mich immer noch weigere,
der Faktizität ***