Meine Geschichte mit dem Thema Prekarität
"Es gab eine Zeit, als die Menschen ganz natürlich in die Verhältnisse hineinwuchsen, die auf sie warteten, und das war eine sehr sanfte Art, sich zu finden. Doch heute, nach all den Erschütterungen, wenn alles dem Boden entrissen wird, in dem es gedieh, sollte man auch die Bildung der Seele nicht mehr den traditionellen Künsten überlassen, sondern sich, wie es auch geschah, auf das Wissen stürzen, das mit den Maschinen und der Fabrik kam" (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)
Manche Themen ähneln chronischen Krankheiten. Sie sind dir ein Klotz am Bein. Du wirst sie nicht los. Sie gehen dir nach und verfolgen dich. Dabei werden sie größer und älter. Gemeinsam mit dir wachsen sie auf, werden erwachsen. Du hättest sie gern überwunden. Du wärst gern auf der anderen Seite, bei denen, für die das alles kein Thema ist. Nichts, was Nachdenken erfordert.
Andrerseits werden diese Themen zum Feld der Beobachtung und es macht einen Unterschied, ob du etwas von innen heraus kennst und beschreibst, oder von außen ein Urteil darüber abgibst, z.B. indem du Thesen aufstellst oder es in gängige Diskurse einordnest.
Die Beschreibung von innen her kämpft mit dem Defizit fremder Zuschreibungen, mit einem Mangel an Ausgesagtem. Das, was es darüber zu sagen gibt, wird nicht gesagt, ja, nicht einmal im Ansatz getroffen. Daher resultiert ein großes Unbehagen, eine Unzufriedenheit an der Sprache und - weil es die eigene Position betrifft - auch eine Art körperlicher Unruhe, weil die eigene Situation zwar gemeint ist, aber in einer Form zum Ausdruck gebracht wurde, die inakzeptabel ist. Das ist spürbar, diese Versetzung, Zuschreibung die nicht zutrifft, aber doch trifft.
Als ich mich 1998 auf die Suche nach einer Sprache für diese soziale Existenzsituation, die heute als prekär bezeichnet wird, machte, war außer der Beschreibung einer allgemeinen Normabweichung - a-typisch - kaum etwas vorhanden. (als prekär wurde sie damals nicht beschrieben und auch das, wonach ich suchte, war nicht das Prekäre, sondern ein sozialer Zusammenhang und eine Beschreibung, die nicht in der Individualisierung eines Phänomens endet). Es gab über das Thema kaum etwas zu sagen. Damit beginnt es für mich immer interessant und spannend zu werden, wenn es über etwas nichts zu sagen gibt. Dort, wo Sprache endet. .... Heute ist das Thema in aller Munde.
An der Prekarität habe ich erlebt, wie etwas zum Diskurs wird. Das ist gut und schlecht zugleich. Gut ist es deshalb, weil das Thema endlich Aufmerksamkeit erhält.
Schlecht ist es in meinen Augen, weil es zum "gespurten Terrain" wird. Das ist umso stärker, als sich in der globalen Vernetzung nicht die Verschiedenheit durchsetzt, sondern eher ein Mainstream. Es finden sich die immer gleichen Ansichten und Zugänge, die etwas "fertig" erscheinen lassen.
Das, was einen Gegenstand interessant macht, weil es wenig über ihn zu sagen gibt und er im Diskurs nicht aufgetaucht ist, fällt weg, weil nichts weiter darüber zu sagen ist, als das, was es gibt.
Es gibt noch einen weiteren Grund: Bis zu einem gewissen Grad bestimmt Sprache, was als Realität gesehen wird und produziert genau das, worüber sie spricht. Etwas wird, was es bedeutet.
Schön zu sehen ist das an Themenfeldern, die sich mit der Zeit etablieren. Dafür braucht es eine lange Sicht.
Die Rede von der Vermarktbarkeit und dem Vorrang der Ökonomie zum Beispiel hat es (nicht nur, aber auch) sprachlich zuwege gebracht, dass Bildung, Partnerschaft, Körper, Gesundheit ebenfalls nach dem Kalkül der ökonomischen Verwertbarkeit gedacht werden. Trotzdem gibt es vielfältigste andere Sicht- und Lebensweisen, die hier keinen Platz finden. Es wird nur so getan, als ob es einheitlich wäre. Die globale mediale Verbreitung, die trophäenartige "Hype-isierung", wenn einmal etwas gefunden wird, das nicht so ganz hineinpasst, wie es "entdeckt" und hochgepusht wird mit (Be)wertungen, die im Grunde keine sind, sondern oft nach dem Gerüchte- und Autoritätsprinzip funktionierende Marketingstrategien, tragen dazu bei.
Ich will damit nur sagen, dass eine in einen Diskurs gefasste Problematik nicht sichtbar machen kann, was alles nicht passt und wegsteht. Die vielen Haare, die nicht in die Frisur passen. Vielen erspart es eigene Denkleistungen und Irrtümer. Widersprüchlichste Erfahrungen werden über einen Kamm geschoren.
Als ich damals nach dem Thema gesucht habe und es noch nichts darüber gab, fand ich ein Buch auf italienisch: Sergio Bologna / Andrea Fumagalli: Il lavoro autonomo di seconda generazione. scenari del postfordismo in Italia, Feltrinelli 1997. Ich kann kein Italienisch. Ich habe es mir trotzdem aus Italien schicken lassen. Es hat zwei Wochen gedauert, bis ich es bekam. Mühsam habe ich es mir übersetzt.
Sergio Bologna stellt in diesem Buch 10 Thesen über die autonome Arbeit in Italien auf. Dazu ist zu sagen, dass sich Bolognas Buch auf die Situation in Norditalien in den späten 1970er Jahren bezieht. Die sogenannte "zweite" Generation, auf die Bologna Bezug nimmt, zog es aus den Fabriken (v.a. FIAT in Turin) in die selbstständige (autonome) Arbeit, v.a. Arbeiten im Kreativbereich und im Dienstleistungssektor.
Ich war seit 1993 selbständig. Es war die Zeit der Neuen Selbständigen. Es gab dazu viel Euphorie. Zeitlich fiel es zusammen mit der Durchsetzung des Internets für alle, mit Vorstellungen, wie diese neue Arbeit aussehen könnte. Der Neuen Selbstständigkeit wurde in Zusammenhang mit den Neuen Medien eine Vorreiterrolle in dieser Entwicklung zugesprochen.
Auch die Bilder dieser freien Arbeit - und ich spreche hier immer von meiner ganz persönlichen Sicht - waren neu und vielversprechend. Die neuen Medien stellten damals für mich dieses Versprechen dar: Kommunikation, Austausch, Spontaneität, Leichtigkeit, ein Versprechen der Kreativität für alle Menschen. In Erinnerung ist mir der Film "Weiblich. Ledig. Jung" (Single. White. Female 1992), nicht wegen der Handlung, sondern wegen der Hauptfigur Bridget Fonda und ihrer Arbeit. Sie erstellt einen Online-Shop für einen Kunden in der Modebranche. Bei uns gab es weder Laptop noch allgemeines Internet. Dass sich dieser Kunde später als sexistischer Macho herausstellt, hätte mir eigentlich zu denken geben müssen. Aber es war die Art, wie Bridget Fonda arbeitete: auf dem Fensterbrett ihrer Wohnung mit Blick auf die Straßen New Yorks im Zentrum Manhattens, den Computer auf ihren Knien. So souverän, in Freiheit und Unabhängigkeit. Das klingt jetzt vielleicht seltsam. Auch das, was man sieht und was nicht. Aber ich kann dieses Hochgefühl abrufen, das mich da überkam, das mich immer überkommt, wenn etwas auf die Zukunft hin geöffnet ist, auf Möglichkeiten hin, diese stürmische Bewegung ins Offene wie sich verlieben. Ein ähnliches Gefühl stellt sich bei mir ein, wenn mir etwas Künstlerisches, das vorher nicht da war, gelingt.
Das ist wichtig: es ist der Blick auf eine Veränderung Es betrifft die eigene Utopie, die nie nur die eigene ist, weil sie immer auch auf die Welt bezogen ist. Niemand kann alleine Revolutionärin sein.
Dass etwas einmal so wird, wie es werden soll. Es ist der Modus der (sozialen) Bewegung, im Modus der Hoffnung auf Veränderung. Zumindest in Kopf und Herz muss die Bewegung beibehalten werden und im Handeln, das so tut als wäre es erreicht und sich nicht irritieren lässt, wenns nicht so ist. Kontra-faktisch leben. Das mit der Hoffnung ist ein ganz großes Thema im prekären Leben, aber nicht nur dort. Weil die Folgen fatal sind, wenn diese Hoffnung aufgegeben wird, fatal auch, wenn sie nur mehr auf Technologien bezogen wird, die die gesellschaftlichen Hoffnungen repräsentieren.
Sergio Bologna, das fällt mir auf, sah aber schon sehr früh andere, dunklere Aspekte in der selbständigen Arbeit. Er hat sie aus seiner Erfahrung genommen. Auch ich kenne diese Erfahrungen. Bologna thematisiert auch das Leiden an diesen Arbeitsformen.
Er spricht zum Beispiel über die Zeit, die sich in der selbständigen Arbeit anders darstellt, als in der lohnabhängigen. Die Schwierigkeiten der Planbarkeit, der kurze Zeithorizont und welche Auswirkungen das auf das Leben hat: zum Beispiel auf die Biografie, auf Lebensplanungen, auf Partnerschaften. Auch über den Raum schreibt Bologna, der "domestiziert" wird, zur "Fabrik" in den eigenen vier Wänden wird und dass der Arbeitstag darin beliebig ausgedehnt werden kann. Das alles hinterlässt Spuren.
Diese "Binnenanalyse" der Arbeit in ihrer Temporalform, ist etwas, das ich sehr schätze: Untersuchungen der Zeit machen Herrschafts und Unterdrückungsformen sichtbar.
Von der Soziologin Regina Becker-Schmidt gibt es beispielsweise ein Buch über Zeiterfahrungen von Fabrikarbeiterinnen in der Akkordarbeit (Nicht wir haben die Minuten. Die Minuten haben uns). In den Interviews mit den Arbeiterinnen wird deutlich, wie zerstückelt Zeit hier erfahren wurde, aber auch, welche Strategien sie als Gruppe dagegen entwickelten.
In der Zeit, als mich das alles sehr bewegt hat, habe ich mich mit dem Gedanken getragen, eine Arbeit über Zeiterfahrungen in prekären Lebenssituationen zu schreiben. Ich habe damals auch Interviews mit meinen Freunden und Bekannten durchgeführt, die in der gleichen Situation waren wie ich. Irgendwie war das dann auch der Grund, warum ich diese Arbeit nicht als wissenschaftliche machen konnte, weil ich diese Interviews niemals hätte veröffentlichen wollen und diese Rollen sehr kritisch gesehen habe.
Aber in den Interviews findet sich der Satz: "Nicht nur Zukunft - irgendwie kommt mir auch die Gegenwart abhanden". Wenn ich diese Arbeit gemacht hätte, hätte ich ihr wahrscheinlich diesen Titel gegeben. Dieser Satz hat mich sehr getroffen und berührt mich immer noch. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie es kommt, dass Personen so über Zeit, über ihre Zeit, sprechen können. Immer noch denke ich, dass die Zeiterfahrung ein Schlüssel im Zugang zur Prekarität ist. Prekäre Situationen haben eine Zeitdimension. Sie sind Wandlungsprozesse.
"Sie verwandeln die Zukunft dessen, was kommen wird - ihr nahendes Ende - in die Vergangenheit dessen, was wahrgenommen sein wird" (Temporalform des Futurum Exactum). Aber genau da ist anzusetzen. Denn es hat einen Grund, warum Zeit so wahrgenommen wird.
Zeit, darin löst sich alle Ökonomie auf, schreibt Karl Marx und damit hat er Recht.
Jede Form der Herrschaft versucht zuerst Macht über die Zeit zu erlangen.
Wenn ich diese Arbeit "Zeiterfahrungen in den neuen prekären Arbeitsformen" heute machen würde, müsste ich sie wahrscheinlich als "Literaturprojekt" machen, was vielleicht gar keine so schlechte Idee wäre. Zumindest bliebe mir dann erspart; Menschen, die ich kenne, im Namen der Wissenschaft zu exponieren und irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen. Das Eigene, die eigene Konstitution, das eigene Denken müssten reichen. Wenn ich Glück hätte, könnten andere Menschen daran andocken.
Ich würde das Thema in seiner ganzen Widersprüchlichkeit belassen. Aber ich würde auch nach Mitteln suchen, wie der Prekarität der Stachel gezogen werden könnte. Das kann, denke ich nur durch massive Zuwendungen in solidarische Strukturen erfolgen.
Prekarität berührt existenzielle Bereiche des Lebens, die in einer saturierten, konsumorientierten ("bürgerlichen") Lebensweise möglicherweise niemals wahrgenommen werden. Die dem Zufall ausgesetzten Lebenslagen, wie Robert Castel so schön sagt )), machen offen für die Erfahrung von Furcht und Angst. Damit möchte ich auf ein anderes Buch hinweisen, die "Grammatik der Multitude" von Paolo Virno. Es ist zwar sehr philosophisch, aber zu dem Thema unbedingt empfehlenswert. In der Erfahrung der Kontingenz (also der Ungewissheit) kann kein Unterschied mehr gemacht werden zwiischen der Furcht vor etwas Konkretem und einer Angst im Allgemeinen, schreibt Virno (die Begriffe stammen von Martin Heidegger). Virno beschreibt auch in anderen Bereichen den existenziellen Zustand der Prekarität, der immer mehr Menschen ob nun imaginär oder konkret zu betreffen scheint.
Neben der krisenhaften Zeitlichkeit (Stichworte: Widerruflichkeit - Befristung - Diskontinuität -Flexibilität) ist der zweite Aspekt der Prekarität der der Abhängigkeit (Stichworte: Schutz - Autonomie - Herrschaft). Es drückt sich darin ein Gefälle aus. Auch hier ist mir eine Passage in den Interviews in Erinnerung von einer Frau, die zuerst selbständig war und später dann die gleiche Arbeit in einem Angestelltenverhältnis gemacht hat (Sie hat unterrichtet). Was sich mir eingeprägt hat, auch im Tonfall, denn ich habe das Interview damals auch transkribiert, ist das Wort "servieren", das sie mehrmals gebraucht hat, weil ihr die Hände gebunden waren und sie nicht das tun konnte, was sie für richtig gehalten hätte. "Servieren" ist ihr eingefallen, als sie nach einer Beschreibung für die Umstände suchte, unter denen sie die Arbeit, von der sie wirklich überzeugt war, machen musste. Ich habe das sehr treffend gefunden. Denn genau das ist das Prekäre, diese unsichere, abhängige Form von etwas. Es liegt weder an den Menschen, noch an den Inhalten. Es liegt an einer Form, in der die Beziehungen zwischen Menschen als Beziehungen zwischen Sachen erscheinen. Die Form verändert die Art und Weise wie etwas da ist (als Wert oder als Ware, als Eigentum, als Beziehung, im Fluss, im Austausch ...) Eine Form kann geändert werden.
In den neuen (prekären) Arbeitsformen, aber nicht nur dort, denn es ist eine allgemeine Tendenz, driftet auseinander, was in der Form der Lohnarbeit (frz. salariat ist ein besseres Wort dafür) zusammengefügt wurde:
- Produktion und Kreativität (das Handeln und Tun), - die Sicherung der Existenz, - die Einbettung in soziale Zusammenhänge, - Status und soziale Anerkennung
Künstlerinnen haben Erfahrung mit dieser Thematik. Kunst, Kultur und auch Wissenschaft sind beispielhafte Felder der Entgrenzung und Prekarisierung.
Ungleichheiten hierarchisieren sich. Es kommt zu ökonomischen und - historisch wieder - zu persönlichen Abhängigkeiten.
Das sollte in der ganzen Vielfalt thematisiert werden.
Nachtrag:
Die Herstellung von Unsicherheit ist Programm. Es führt zum Verantwortlichmachen Einzelner für Entwicklungen, die struktureller Art sind, oder auch zur Entmündigung durch Expert*innen. Deshalb braucht es eine Weitung und Schärfung des Begriffs Prekarität auch in einem politischen und sozialpsychologischen Sinn. Sensibilität für den Abbau politischer Rechte, für Privatisierung als Schwächung kollektiver Strategien, für sozialpsychologische Verunsicherung als Zusammenbruch traditioneller Selbstverständlichkeiten und Verlust von Zugehörigkeiten.
Und schließlich geht es auch um die Frage: Was ist ein würdiges Leben für alle.
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