Zuschauer, es sind alle erschienen
Zum § 278a StGb & zur "operation spring"
Man wünscht sich, dabei gewesen zu sein. In Woodstock. Beim Mauerfall. An historischen Wendepunkten. Man wünscht sich, teilgenommen zu haben auf der richtigen Seite natürlich und falls das nicht möglich gewesen wäre, zumindest dem Wunsch nach, als Fan und als Anhängerin einer begrüßenswerten Sache und mitgerissen, mitfiebernd. – So ungefähr stelle ich mir das vor, sehe ich sie vor mir: die Zuschauer, das Publikum. Eine ganze Welt, die zusieht. Möglicherweise hatte Kant sie noch viel mehr vor sich, wenn man die engen Kanäle der Medien damals berücksichtigt. Denn das Gefühl der Teilnahme aus der Ferne war damals noch neu. In den Zuschauern, so lese ich, löste das Ereignis der französischen Revolution Enthusiasmus aus, eine Teilnehmung dem Wunsch nach – eine Partizipation in den Köpfen vorerst –, aber mit der Hoffnung ähnliches unter anderen, besseren Bedingungen zu wiederholen, für sich und zur Änderung der Verhältnisse.
Heutzutage wären Kants Zuschauer Mitwisser, was sage ich denn, Verschwörer und Terroristen wären sie. Als Gutheißer einer terroristischen Straftat verdächtig, nein, nicht mehr verdächtig, schon überführt, denn der Verdacht hätte sich ja dann auch schon erübrigt, nachdem die Tat in die Gedanken gefallen ist, zusammengefallen ist, nachdem die Differenz gestrichen wurde. Es braucht einem ja nur etwas einfallen, um straffällig zu sein. Da bleibt kein Raum mehr zwischen dem Akt und dem Denken. Die Vorstellung, dass eine andere Welt möglich und notwendig ist. Nichts passt mehr dazwischen, kein Blatt Papier, kein Ausweg, keine Distanz mehr ist notwendig zwischen Realem und Fiktion, da reicht schon die Einstellung oder was davon nach Außen dringt, alles Andere darf unterstellt werden, so wie es gerade passt. Die Sterndeuterjustiz liest aus den kleinsten Äußerungsspuren und was nicht festgestellt werden kann, wird hochgerechnet. Einfach eine Zehnerpotenz zum Möglichkeitsraum hinzufügen und zum Raum noch die Leere. So kommt man selbst bei minimalen Ausgangsbedingungen auf ansehnliche Ergebnisse: zum Beispiel auf zweitausend Jahre Freiheitsentzug im Frühlingsorakel, das aber dann schon Gesetzeskraft hat. Denn schließlich werden diejenigen, die es getroffen hat, immer noch festgehalten. Der Zugriff auf ihre Lebenszeit ist das, was greifbar ist, während die Anschuldigungen unhaltbar sind und jede*n treffen können. Es ist schön, wenn die Justiz nun auch um die Fiktion erweitert wird, um Möglichkeitsräume und Möglichkeitshandlungen. Virtualität meint ja die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen. Gleiches zu Gleichem, damit die Rechnung aufgeht. Auch wenn jemand real nicht zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein kann, so ist so etwas virtuell immerhin denkbar. Das Verbrechen im Geiste ist überall. Es ist schön, wenn auch die Zukunft berücksichtigt werden kann. Die Gelegenheit zum Verbrechen hochgerechnet auf die statistische Lebenserwartung bei einer Wochenarbeitszeit von 40 Stunden. Aber auch in umgekehrter Richtung ist eine Rekonstruktion in die genetische Vergangenheit denkbar, als Schuldfrage zum Beispiel. Da bleibt kein Raum mehr für Sympathie, denn die Gutheißung einer als terroristische Handlung bezeichneten Straftat kommt selbst schon einer terroristischen Straftat gleich, ist also mit ihr identisch. Es ist quasi das Gleiche. Der Protest ist schon die Nötigung derer, gegen deren Unterdrückungsmaßnahmen protestiert wird. Widerstand ist schon Angriff, wenn das System sich bedroht sieht. Da gibt es keinen Unterschied. Gedacht, geschrieben oder getan. Das Totschlag-Argument schlägt alle Unterscheidungen mit einer Klappe, da bleibt kein Rest mehr. Nichts und nichts Anderes. Es erübrigt sich. Die Welt schrumpft: Pocketversion oder universaler McDonalds. Small, Medium oder Large, aber im Prinzip ist alles immer und überall das Gleiche. Mit oder ohne Cola. Knapp nach der Jahrtausendwende ist uns irgendwie eine Dimension abhandengekommen. Seitdem befinden wir uns im Zeitalter der Scheibenwelt in Erwartung, dass sich der Horizont der Scheibenwelt als überdimensionale Guillotine irgendwann auf die Köpfe des Publikums herabsenkt. Das Messer. Und gute Nacht …
2010