Gibt es eigentlich eine rechte*) Poesie? Ich meine nicht Verse, sondern das Poetische in seiner Offenheit und in seinem Vermögen etwas zu verwandeln. Ist nicht das Geschlossene ein Kennzeichen rechter Sprache und Denkens? Würde nicht umgekehrt gelten, dass das Poetische die geschlossene Sprache wieder zurückverwandeln kann in etwas Offenes: jeden rechten Satz in ein Gedicht?
Was ist eigentlich Poesie? Was kann Poesie?
Und wenn rechte Sätze in Poesie verwandelt sind, sind sie dann nicht mehr rechts?
Wie meine Assoziationen zu „Rechtsabbiegen bei Rot“ — eines der ersten Vorhaben des Infrastrukturministers — im Grunde völlig aus der Luft gegriffen sind. Denn selbstverständlich ist die Phrase unschuldig und bezieht sich allein auf das Abbiegen nach rechts während der Rotlichtphase der Ampeln. Nichts weiter.
Aber es ist hier kein Halten und das ist ein Kennzeichen von Sprache, dass ihr kein Einhalt geboten werden kann. Niemand kann sagen, bis hierher reicht der Sinn und nicht weiter.
Man solle doch das „Rechtsabbiegen bei Rot einführen“, sagte der Infrastrukturminister und ehemaliger Präsidentschaftskandidat. Es war eine seiner ersten Äußerungen in diesem Amt.
Wie man so außer sich sein kann und doch in der Struktur des Gesagten Wahrheit liegt, musste ich denken, und dass in dem Satz schon ein Programm beschlossen ist und nicht allein ein Programm, sondern auch Spuren bisherigen Handelns sichtbar werden.
Verdächtig klingt das in meinen Ohren. Misstrauisch geworden, könnte man meinen, es wäre ein Code an die Eingeweihten:
„Ihr Rechtsabbieger, hört die Signale.“
Das ist eine Bedeutung, die mir aufgeht, wenn ich den Satz „Rechtsabbiegen bei Rot“ aus dem Mund des neuen Infrastrukturministers höre. Diese Bedeutung blüht und wuchert abseits der von ihm gemeinten Aussage — die ich natürlich kenne — wie Unkraut an den Rändern eines gepflegten Sprach-Blumenbeets.
Ich würde ja gerne Sprache wie Gorilla-Gardening betreiben. Fremde Saaten in geordnet gejäteten Wörterbeeten ausstreuen, wachsen lassen, werden lassen, sehen, was daraus wird.
Kann ich einen rechten Satz entwenden? Kann ich ihn in einen anderen Kontext stellen oder ihn in etwas einbauen, wo er ungiftig wird, sich vielleicht ins Gegenteil verkehren würde, wachsen kann, so dass noch etwas völlig anderes aus ihm werden kann, ja warum nicht? Ist das nicht das, was Literatur, was das Schreiben tun können soll. Und sicher, es soll jede* können (können). Es ist nichts, was Einzelnen, oder schlimmer den besonders Befähigten, den Exzellenten, vorbehalten sein soll.
„Bin ich‘s, so ist‘s ein jeder, der ist so viel wie ich“, schreibt die Bachmann und ich finde, in den Bereich des Schreibens und der Literatur sollte schon längst die Demokratie eingezogen sein: Wenn ich es tun kann, soll es jede tun können. Jede, die ist so viel wie ich. Es — das Schreiben, die kulturelle Äußerung — ist für alle und die sind gleich. Danke, Ingeborg Bachmann, für den Satz.
Was brauchen wir dafür? Vor allem Raum. So will ich von meiner persönlichen Welt-Raum-Odyssee 2000 erzählen. Denn meine Suche nach Räumen umfasst in etwa die 17 Jahre, die zwischen 2000 und 2017 liegen, zwischen Schwarzblau 1 und Türkisblau 2. Diese Kennzeichnung wäre im Grunde unwichtig, wenn es nicht um das ginge, was sich in einem Leben ereignet und wie eine Zeit ein Leben geprägt hat. Die Geschichte ereignet sich einmal als Tragödie und wiederholt sich als Komödie, schrieb Marx und unlängst diskutierte ich mit einer Freundin, mit der ich diese Zeit geteilt habe, was als Tragödie und was als Komödie zu bewerten sei. Schwarzblau oder Türkisblau? Schwarzblau war die Komödie, Türkisblau die Tragödie, meinte ich. Jetzt wäre es ernster und es gäbe nicht mehr so viel zum Lachen.
Aber auch wir waren jünger damals, sagte meine Freundin. Das stimmt. Vielleicht gibt es, wenn man älter wird, nicht mehr so viel zum Lachen.
Das bezweifle ich, aber man merkt die Wiederholung und die stimmt nicht heiter, dass sich trotz allen Widerstands nicht viel geändert hat. Anscheinend. Trotz aller Anstrengungen ist es wieder passiert. Und wir haben gemerkt, wie schwer es ist, etwas andauern zu lassen — den Widerstand, zum Beispiel.
Wie schwierig es überhaupt ist, etwas dauern zu lassen, wenn man sich nicht in einer Position des Herrschenden befindet. Es ist anstrengend, denn du merkst den Wind, der dir entgegenschlägt und wie sich nach einiger Zeit das Unerhörte zu normalisieren beginnt. Ich und ich bin sicher auch andere, könnten darüber erzählen, über das Dagegenstehen, im Unbehagen, in der Sprachlosigkeit. Nicht immer finden sich Möglichkeiten der Entgegnung. Der Widerspruch einer Sprache muss erst gefunden werden. Oft bist du zu jung, zu unsicher, zu Kind, zu unpassend, zu alleine, zu sperrig. Aber auch wenn dir die Worte fehlen, weißt du genau, wie sich das anfühlt: Herrschaft, Macht. Du könntest eine Wut-Karte davon zeichnen. Du hast eine gezeichnet, denn diese Situationen vergisst du nicht, egal, wie lange es her ist. Es ist ein Denk-Schmerz im Ungedachten, denn das Herrschende versucht, dich auf seine Seite zu ziehen, in die Zustimmung, in die Befriedung: Gib endlich Ruhe, Denken, hör auf, richte dich ein im Binären, im richtigen Urteil, in Grenzen, im allgemein Anerkannten.
Alles das kann ich nicht. Ich sträube mich. Es sträubt sich. Der Denk-Schmerz steht dagegen. Es fühlt sich an. Es steht. Ohne Sprache. Es erinnert mich an ein Gedicht von Paul Celan.
Und die Sprache? Die Sprache verändert sich.
Sätze, die vor einigen Jahren noch einen zynischen Beigeschmack hatten, werden zu Aussagen, die heute verwendet werden, als wären sie neutral. Niemand stößt sich mehr daran. Was auf dem Papier existierte, ist eingetreten. („Festung Europa“ war einmal ein extrem umstrittener Begriff und ist jetzt eine von vielen akzeptierte und verwendete Bezeichnung.)
Andrerseits gibt es Sprache, die entmündigt, denn sie schreibt die allzeit und immer schon richtigen Worte vor, ohne Raum für das eigene Urteil zu lassen.
Was hier in der Sprache vor sich geht, interessiert mich. Warum habe ich der Sprache nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt, diesen langsamen Veränderungen, den Verhärtungen, den Umwandlungen von Worten in „Fakten“, in unhintergehbare, unwidersprochene Realitäten.
Yes, they do it with words. All the time. Every time again.
Warum habe ich es nicht besser dokumentiert, diesen Prozess der Anpassung, der eigenen Anpassung, des Abschleifens der Sensorien, bis zu dem Punkt, wo ich selber nichts mehr dabei finde, dabei bin.
Und hätten wir als Schreibende mit der Sprache nicht auch andere Mittel in der Hand, diesen Prozess rückgängig zu machen. Das Feste in eine offene, fließende Form zu bringen. Zeigen, dass sich unter der Festigkeit etwas bewegt und im Fluss ist. — Gorilla Gardening, Wucherungen, Verunordnungen, nicht um es zu verschönern, sondern um es in Bewegung zu versetzen. Das ist politisch.
Es ist anstrengend — auch sich selbst — immer wieder darauf hinzuweisen, dass das „Normale“ — ich meine das Herrschende — nicht „das Richtige“ ist. Aber im Fragwürdigen beginnt das Denken, deshalb ist es vielleicht ganz gut diese Gegnerschaft einer Parallelwelt vor sich zu haben, um dagegen anzusprechen. Aber dafür brauchen wir Raum. Für unsere Emanzipation brauchen wir Raum. Eine andere Freundin, die ich einmal gefragt habe, meinte, sie hätte sich diesen Raum immer selbst genommen. Darüber habe ich nachgedacht und ich glaube, dass es nicht so einfach ist mit der räumlichen Aneignung, zumindest nicht mit der alleinigen Aneignung. Denn der Raum sind die Menschen.
Wenn auch Emanzipation etwas ist, das jede für sich alleine tun muss, so entsteht der Raum zwischen Menschen. Das ist eine meiner Erfahrungen aus dieser Zeit um 2000. Ohne Raum gibt es keine Emanzipation. Damit meine ich die Möglichkeit einer jeden zu ihrem Eigenen zu kommen.
Mut haben, sich ohne Leitung eine*r anderen, des Verstandes zu bedienen, schreibt Kant, ist Aufklärung. Aber er spricht auch vom Publikum. Das Publikum ist nicht als Spektakelgemeinschaft zu denken, die sich im Betrachten erschöpft oder im Applaus: im enggeführten Zirkel von Bewunderung und Berühmtheit. Das Publikum ist die Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit ist der Raum. Dieser Raum muss frei sein, offenstehen. Für alle.
2000 war der freie Raum das freie Radio, der Äther. Im Äther saß das Publikum wie ein unsichtbarer Vogel in den Zweigen eines riesigen Affenbrotbaumes. Der Äther war dicht und schwerelos zugleich und das Publikum war körperlos. Manchmal brach es als Stimme herein. Das Sprechen in die Unsichtbarkeit war befreiend.
Erst im Äther habe ich gelernt, frei zu sprechen. Von daher weiß ich, was ein offener Raum bewirken kann, für die Freiheit der Sprachen und Äußerungen.
Der Raum ist die Voraussetzung dafür, dass etwas möglich wird. Deshalb sollten wir ihn schaffen. Als Entgegensetzung zu dem, was heute an Geschlossenheit und Ausgrenzung stattfindet.
Den Stimmen merke ich die Zeit nicht an. Sie klingen noch so wie damals 2000. Auch das Thema hat nichts an Aktualität eingebüßt: Neoliberale Rhetorik.
E wie Eigenverantwortung
E wie Eigentum
E wie Elite
A wie Abbauen
A wie Anständigen, die
A wie Aktiv (…)
Dann eine andere Stimme aus der Zeit, zeitlos aktuell:
„Wir müssen auf die Räume achtgeben virtuell oder real, in denen sich Differenz ausdrückt, in denen sich Widersprüche ausdrücken, die Minderheiten einbinden.
Räume, die befähigen selbst aktiv zu werden oder zunächst einmal daran teilzunehmen.“
*) Bei der Definition von rechts möchte ich mich an Gilles Deleuze orientieren, der bei der Frage "Was ist links" vom Horizont ausgeht. Der Horizont einer linken Sicht umfasst die ganze Welt, der Horizont einer rechten das Eigene.
G. Deleuze "Die Linke" in Abécedaire nach Didier Eribon, Rückkehr nach Reims, edition suhrkamp 2006.